Grundsätzlich ist eine geplante Änderung an einem Medizinprodukt auf mehreren Ebenen zu betrachten. Zunächst muss jede Änderung innerhalb des Qualitätsmanagementsystems gelenkt, d. h. bewertet, verifiziert, validiert und freigegeben werden (Change Management Prozess). Sämtliche Änderungen, ihre Bewertung und notwendige Maßnahmen müssen dokumentiert werden.
Eingebunden in den Change Management Prozess sollte bereits in einer frühen Phase eine systematische Einflussanalyse (Impact Assessment) durchgeführt werden, um die möglichen Auswirkungen der Änderung und alle erforderlichen Maßnahmen frühzeitig identifizieren, abwägen und planen zu können. Dieses Impact Assessment kann komplex sein, da alle Phasen des Produktlebenszyklus zu berücksichtigen sind. Es erfordert profunde Produktkenntnisse und sollte im besten Fall unter Einbeziehung verschiedener Fachbereiche durchgeführt werden.
Hinzu kommen zwei weitere Aspekte in der Bewertung einer Änderung, die ebenfalls frühzeitig zu berücksichtigen sind und über weitere Maßnahmen bestimmen: Erstens die Kategorisierung der Änderung in signifikant vs. nicht-signifikant. Und zweitens die Unterscheidung, ob es sich um ein Produkt handelt, das derzeit als sogenanntes Legacy Device mit noch gültigem MDD-Zertifikat entsprechend der in MDR, Art. 120 dargelegten Übergangsbestimmungen in Verkehr gebracht wird, oder ob die Konformität des Produkts gemäß MDR bewertet wurde und ein entsprechendes MDR-Zertifikat vorliegt.
Bezogen auf ein Medizinprodukt ist eine Änderung dann als signifikant einzustufen, wenn sie
- die Sicherheit, Effizienz oder Leistung des Produkts,
- die Konformität des Produkts mit den grundlegenden Anforderungen der MDD, bzw. den grundlegenden Sicherheits- und Leistungsanforderungen der MDR oder
- die bestimmungsgemäße Verwendung des Produkts oder die Angaben zum Produkt beeinflusst.
Bei Legacy Devices dürfen keine signifikanten Änderungen an der Auslegung oder Zweckbestimmung durchgeführt werden, solange das Produkt entsprechend der in MDR, Art. 120 dargelegten Übergangsbestimmungen weiterhin in Verkehr gebracht werden soll. Im Falle von signifikanten Änderungen erlischt das MDD-Zertifikat, und eine Konformitätsbewertung gemäß MDR ist notwendig, um das Produkt in Verkehr bringen zu dürfen. Für jede nicht-signifikante Änderung an einem Legacy Device muss in jedem Fall die Begründung dokumentiert und entsprechende Belege vorgehalten werden, dass die Materialänderung nicht die Auslegung oder Zweckbestimmung des Produkts betrifft oder, im Falle einer Änderung an der Auslegung oder Zweckbestimmung, dass diese nicht-signifikant ist.
Bei signifikanten Änderungen an einem Produkt mit gültigem MDR-Zertifikat muss die Benannte Stelle vor Implementierung der Änderung informiert werden. Diese entscheidet dann, ob eine erneute Konformitätsprüfung durchgeführt werden muss, oder ob die Änderung umgesetzt und im Rahmen des nächsten geplanten Überwachungsaudits betrachtet werden kann.
Als Hilfestellung für die Kategorisierung von Änderungen und damit der Entscheidung, wann die Benannte Stelle involviert werden muss, hat die Vereinigung der Benannten Stellen zwei Empfehlungen veröffentlicht (NB-MED/2.5.2/Rec2 1) und NBOG BPG 2014-3 2)). Beide wurden noch unter MDD bzw. IVDD erstellt. Zur Kategorisierung von Änderungen an Legacy Devices hat die MDCG 2020 einen Leitfaden (MDCG 2020-3 3)) publiziert. Seit 2021 gibt es nun auch dessen überarbeitete Version (MDCG 2020-3 Rev.1 4)), die um hilfreiche Beispiele ergänzt wurde. Eine generelle Empfehlung für Änderungen an Produkten unter MDR gibt es bislang nicht. Die vier genannten Empfehlungen bzw. Leitfäden können zur Einordnung von Änderungen an Produkten unter MDD und MDR zu Rate gezogen werden, entbinden den Hersteller jedoch nicht von einer Fall-zu-Fall-Bewertung jeder geplanten Änderung. Bindend ist ohnehin nur der Vertrag mit der Benannten Stelle, in dem die Bedingungen für die Meldung von Änderungen festgelegt sind. Im Zweifelsfall sollte die Benannte Stelle zu der Entscheidung hinzugezogen werden, ob die Änderung signifikant ist oder nicht.
Die Abbildung fasst die Kernaspekte zusammen, die unserer Erfahrung nach für die Betrachtung von Änderungen an einem Medizinprodukt aus regulatorischer Sicht relevant sind:
Nachfolgend werden die Kernaspekte beispielhaft anhand eines transurethralen Blasenkatheters näher betrachtet und aufgeschlüsselt. Dafür nehmen wir an, dass es um folgendes Produkt geht:
- Medizinprodukt der Klasse IIa gemäß MDR, Anhang VIII,
- Einmalprodukt, steril verpackt,
- direkter Kontakt zur Schleimhaut der Patientinnen und Patienten,
- MDR-Zertifikat durch eine Benannte Stelle.
Geplant ist eine Änderung an dem Rohmaterial, aus dem der Katheter im Spritzgussverfahren hergestellt wird: Ein Thermoplastisches Elastomer (TPE) soll durch ein Low Density Polyethylen (LDPE) ersetzt werden.
Wie oben beschrieben, sollte zunächst ein detailliertes Impact Assessment unter Einbeziehung aller relevanten Fachabteilungen und Parteien (Regulatory Affairs, Entwicklung, Produktion, Rohmateriallieferant, Lohnhersteller etc.) durchgeführt werden. Um alle relevanten Aspekte zu berücksichtigen, ist es sinnvoll, alle Elemente der Technischen Dokumentation durchzugehen, den möglichen Einfluss der geplanten Änderung auf bestehende Dokumente zu prüfen und daraus resultierende Maßnahmen zu identifizieren – jeweils durch und in Zusammenarbeit mit der zuständigen Abteilung. Stets zu berücksichtigen ist, dass viele dieser Elemente wie Zahnräder ineinandergreifen und sich gegenseitig beeinflussen.
Durch die Rohmaterialänderung an dem transurethralen Katheter ist u. a. mit den folgenden Auswirkungen zu rechnen. Dabei entsprechen die Elemente der Kapitelstruktur der Technischen Dokumentation nach MDR, Anhang II:
In Kapitel 1 (Produktbeschreibung und Spezifikation einschließlich der Varianten und Zubehörteile) wird sicherlich eine Anpassung der Produktbeschreibung und -spezifikation notwendig sein.
In Kapitel 2 (Vom Hersteller zu liefernde Informationen) kann eine Anpassung der Kennzeichnung und Gebrauchsanweisung notwendig sein. Diese ergibt sich aus dem weiteren Impact Assessment, z. B. wenn anhand der Risikoanalyse neue Warnhinweise notwendig werden.
In Kapitel 3 (Informationen zu Auslegung und Herstellung) werden durch die Rohmaterialänderung einige Anpassungen notwendig sein wie:
- Anpassung der Rohmaterialspezifikationen,
- Einpflegen neuer Datenblätter zum geänderten Rohmaterial,
- Angaben zum neuen Rohmateriallieferanten,
- Anpassung der Herstellungsbeschreibung z. B. an das adaptierte Spritzgussverfahren, weil für das geänderte Rohmaterial eine höhere Temperatur notwendig sein wird,
- ggf. Erstellung neuer Freigabespezifikationen.
In Kapitel 4 (Grundlegende Sicherheits- und Leistungsanforderungen) ist zu prüfen, ob sich die bisher anwendbaren Sicherheits- und Leistungsanforderungen ändern und weitere Normen, gemeinsame Spezifikationen oder sonstige Lösungen zu berücksichtigen sind. Die entsprechende Nachweisdokumentation ist zu aktualisieren.
In Kapitel 5 (Nutzen-Risiko-Analyse und Risikomanagement) ist zu prüfen, ob der Risikomanagementplan durch die Rohmaterialänderung anzupassen ist und sich neue materialbezogene Risiken ergeben, z. B. aus der Biokompatibilitätsbewertung. Die Risikoanalyse muss entsprechend aktualisiert werden, ebenso der Bericht.
In Kapitel 6 (Verifizierung und Validierung des Produkts) können u. a. folgende Elemente durch die Rohmaterialänderung beeinflusst werden:
- Der Einfluss des geänderten Rohmaterials auf die definierten Produktspezifikationen, d. h. auf die mechanischen, chemischen und physikalischen Eigenschaften (z. B. Knickstabilität, Zugfestigkeit, Migration von Bestandteilen), ist zu bewerten.
- Durch das geänderte Rohmaterial, die veränderten Produktspezifikationen und das adaptierte Herstellverfahren ist eine Neubewertung der Biokompatibilität notwendig, d. h. Biokompatibilitätsplan und -bericht sind zu aktualisieren.
- Eine Aktualisierung der Klinischen Bewertung kann notwendig werden, falls sich neue Risiken aus der Risikoanalyse ergeben.
- Da das Verhalten des Produkts mit geändertem Rohmaterial über die Zeit nicht bekannt ist, sind die Daten zu Stabilität einschließlich Haltbarkeit neu zu erheben. Hieraus kann sich eine neue Haltbarkeitsdauer ergeben, die wiederum in den Produktspezifikationen und der Kennzeichnung anzugeben ist.
- Da das Produkt steril in Verkehr gebracht wird, ist die bisherige Sterilisationsmethode zu überprüfen und ggf. zu revalidieren.
- Da sich die Anwendung des Produkts durch das geänderte Rohmaterial nicht ändern wird, kann der Bericht zur Usability Bewertung wie gehabt bestehen bleiben.
Es folgt die Kategorisierung der Änderung: Bereits aus dem Impact Assessment und unter Zuhilfenahme der oben genannten Empfehlungen der Vereinigung der Benannten Stellen bzw. Leitfäden der MDCG gelangt man schnell zu dem Schluss, dass es sich hier um eine signifikante Änderung handelt, die die Involvierung der Benannten Stelle erforderlich macht. Die Benannte Stelle wird demnach über die geplante Änderung und den Plan zu deren Umsetzung entsprechend den vertraglich vereinbarten Bedingungen für die Meldung von Änderungen informiert. Diese entscheidet dann, ob eine erneute Konformitätsprüfung durchgeführt werden muss, oder ob die Änderung umgesetzt und im Rahmen des nächsten geplanten Überwachungsaudits betrachtet werden kann.
Nach Prüfung und Zustimmung durch die Benannte Stelle kann die Rohmaterialänderung entsprechend der im Impact Assessment identifizierten Maßnahmen implementiert werden. Die Implementierung kann in mehreren Iterationen verlaufen und ggf. weitere Maßnahmen und Anpassungen erforderlich machen. Die Technische Dokumentation wird entsprechend aktualisiert und – je nach Bescheid der Benannten Stelle – ad hoc zur Neubewertung der Konformität eingereicht oder im Rahmen des nächsten geplanten Überwachungsaudits betrachtet.
Das Beispielprodukt ist bereits nach MDR zertifiziert, und die Technische Dokumentation entspricht den Anforderungen der MDR. Wäre der Einmalkatheter hingegen ein Legacy Device, sollte sich der Hersteller zunächst fragen, ob die signifikante Materialänderung sofort umgesetzt werden muss und damit eine neue Konformitätsbewertung gemäß MDR durch eine Benannte Stelle notwendig wäre. Dafür müsste sowohl die gesamte Technische Dokumentation als auch das Qualitätsmanagementsystem die Anforderungen der MDR erfüllen. Oder ob die signifikante Materialänderung auch zu einem späteren Zeitpunkt möglich ist, wenn nach Ablauf der Übergangsfrist (31.12.2028 für Medizinprodukte der Klasse IIa unter Einhaltung der in MDR, Art. 120 dargelegten Übergangsbestimmungen) ohnehin eine neue Konformitätsbewertung nach MDR erforderlich ist.
Hier sei angemerkt, dass neben der Aktualisierung der Technischen Dokumentation auch die notwendigen Maßnahmen innerhalb des Qualitätsmanagementsystems (wie z. B. Lieferantenqualifizierung, Anpassung von Arbeitsanweisungen) zu implementieren sind. Auf diese wird hier jedoch nicht näher eingegangen.
Die Bewertung und Implementierung von Änderungen an einem Medizinprodukt ist ein Schlüsselprozess im Qualitätsmanagementsystem eines Herstellers. Das Beispiel zeigt, dass eine einzelne Rohmaterialänderung weitreichende Auswirkungen auf zahlreiche Prozesse und Dokumente und nicht zuletzt auf die Konformität des Produkts haben kann. Viele zunächst simpel erscheinende Änderungen können sich als komplex erweisen und erfordern profunde Produktkenntnisse und die Einbeziehung verschiedener Fachabteilungen. Gemäß unserer Erfahrung sind es die Kernaspekte Impact Assessment, Kategorisierung in signifikant vs. nicht-signifikant und die Unterscheidung MDD-Zertifikat vs. MDR-Zertifikat, die derzeit für eine effiziente und umfassende Umsetzung von Änderungen bei gleichzeitiger Aufrechterhaltung der Produktkonformität zu berücksichtigen sind.