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Interview

Innovation und MDR – Gelingt das Zusammenspiel?

Die neuen Verordnungen (EU) 2017/745 über Medizinprodukte (Medical Device Regulation, MDR) und (EU) 2017/746 über In-vitro-Diagnostika (In-vitro Diagnostics Regulation, IVDR) stellen betroffene Unternehmen vor neue Herausforderungen. Beide Regularien sind mittlerweile in Kraft getreten. Durch das neu regulierte Umfeld stellt sich nun die Frage, ob und inwieweit Innovationen unter diesen Verordnungen möglich sind. Wir haben dazu zwei Experten aus Industrie sowie Forschung und Entwicklung, Herrn Prof. Dr. Martin Haimerl, Leiter des Innovations- und Forschungs-Centrum Tuttlingen an der Hochschule Furtwangen sowie Herrn Michael Eisenlohr, Geschäftsführer der JOLINE GmbH & Co. KG, befragt. Darüber hinaus erläutern wir, wie das MDR- & IVDR-Kompetenzzentrum MIK Unternehmen dabei unterstützen kann, innovative Produkte auf den Markt zu bringen.

Seit dem 26. Mai 2021 ist die MDR und nun ein Jahr später – seit 26. Mai 2022 – auch die IVDR verpflichtend anzuwenden. Welche Erfahrungen der Medizintechnik-Branche sind Ihnen mit den neuen EU-Verordnungen bekannt und an welchem Punkt steht die Medizintechnik-Branche momentan?

Haimerl: Insgesamt betrachtet sind vielfältige Erfahrungen mit der Einführung der MDR verbunden. In der Praxis zeigen sich häufig problematische Aspekte: dazu gehören neben den Personalengpässen im eigenen Unternehmen die Unklarheit bei der Umsetzung vieler Vorgaben, die fehlende Verfügbarkeit von Ressourcen und Infrastruktur (u.a. Benannte Stellen, harmonisierte Normen, EUDAMED-Datenbank, …) sowie die Unausgewogenheit der Anforderungen (z.B. klinische Studien für lange etablierte Bestandsprodukte). Auch wenn ich die Grundideen der MDR grundsätzlich für gut halte, so ist ihre konkrete Ausgestaltung doch mit vielen Schwierigkeiten verbunden, die eine echte Gefahr für den starken Medizintechnik-Standort Deutschland darstellen. Wenn Unternehmen für ihre Zulassung verstärkt ins außereuropäische Ausland abwandern, dann können zentrale Ziele der MDR nicht erfüllt werden. Dazu gehört es, einen reibungslos funktionierenden Binnenmarkt für Medizinprodukte unter Berücksichtigung der in diesem Sektor tätigen kleinen und mittleren Unternehmen sicherzustellen – wie es die MDR in Erwägungsgrund 2 selbst ausführt. Letztendlich wird es entscheidend sein, eine Verbesserung der Gesundheitsversorgung als Ganzes zu erreichen. Dafür ist die Sicherheit der Produkte ein wichtiges, aber nicht das alleinige Kriterium. Auch die Verfügbarkeit von Medizinprodukten spielt eine zentrale Rolle.

Eisenlohr: Als Konsequenz hat die Branche ihr Portfolio deutlich eingeschränkt. Weitere Einschränkungen sind durch den Zulassungsprozess zu erwarten. Soweit Akten eingereicht werden, kann niemand sagen, ob diese rechtzeitig durch die Benannte Stelle freigegeben werden. Vorschriften sind nicht vorhanden oder unklar, was zu unterschiedlichen Standpunkten führt und den Zulassungsprozess verlängert. Weiterhin gibt es extreme Kostensteigerungen durch die Erhebung klinischer Daten vor allem für Bestandsprodukte, wie Herr Haimerl es bereits angesprochen hat. Die MDR bremst nahezu alle Innovationen aus und macht sie unwirtschaftlich. Ein weiterer Punkt, der ebenfalls schon angesprochen wurde, ist die Abwanderung von Unternehmen ins außereuropäische Ausland für die Zertifizierung der Produkte, da man eher eine FDA-Zulassung als eine CE-Kennzeichnung anstrebt.

An welcher Stelle sehen Sie das größte Unterstützungspotenzial für die Medizintechnik-Branche?

Haimerl: Gerade da die Aufwände bei der Umsetzung regulatorischer Vorgaben sichtbar gestiegen sind und auch Benannte Stellen Aufträge nur in erkennbar eingeschränktem Maß bedienen können, ist es wichtig, den Unternehmen wirkungsvolle Hilfe zu geben, die ihre Arbeit effizienter gestaltet. Gute Beispiele dafür sind standardisierte Formulare/Dokumente oder Literaturrecherchen für spezielle Arten von Anwendungen, die firmenübergreifend genutzt werden können. Die MDR hat vielleicht am Ende den Vorteil, dass wir gezwungen sind zu lernen, unsere Aufgaben nicht primär in Konkurrenz, sondern in Kooperation anzugehen. Das betrifft die Klärung offener Fragestellungen, die Bereitstellung geeigneter Werkzeuge und letztendlich auch den Aufbau und den Austausch von Expertise. Gerade das erforderliche Know-how, das im regulatorischen Bereich immer komplexer wird, muss gezielt entwickelt werden – nicht nur auf der Seite der Benannten Stellen, sondern auch bei den Unternehmen. Hier sind natürlich die Aspekte der Ausbildung und Schulung ein wichtiger Faktor bzw. Unterstützungspotenzial.

Infokasten:

Das MIK orientiert sich bei seinen Dienstleistungs- und Beratungsangeboten für Medizintechnik- und In-vitro Diagnostik-Hersteller an den Bedürfnissen der Branchenteilnehmerinnen und -teilnehmer. Dabei begleitet das MIK insbesondere Start-ups sowie kleine und mittelständische Unternehmen von der ersten Idee über die Entwicklung, die Zulassung, den Einsatz in der Klinik bis hin zum Lebensende des Medizinprodukts. So fördert das MIK durch regelmäßig stattfindende Workshops zu spezifischen Themengebieten und Fragestellungen den Austausch und die Vernetzung der Branche. Durch die sich im Aufbau befindende Dienstleistungsplattform soll zudem der Austausch von Expertise und das Auffinden geeigneter Dienstleister erleichtert und eine Checklisten-basierte standardisierte Dokumentation ermöglicht werden. Darüber hinaus werden gemeinsam mit den Unternehmen geforderte, aber aktuell noch nicht verfügbare Analytik- und Prüfmethoden entwickelt. So konnten z.B. Methoden zum Nachweis freigesetzter Wirkstoffe (USP, UV/Vis, HPLC) oder Beschichtungen wie Nano- oder Biopolymer-Beschichtungen (GPC, HPLC, MALDI bzw. CoA-Test, Sax, HPLC, LC-MS/MS) und viele weitere neue Methoden etabliert werden.

Eisenlohr: Zum Thema Unterstützungspotenzial möchte ich an dieser Stelle noch einmal den bereits zu Anfang genannten Punkt der klinischen Daten aufgreifen. Für die Erhebung klinischer Daten vor allem für Bestandsprodukte müsste ein Verständnis in den Kliniken zur Zusammenarbeit geschaffen werden. Weiterhin müsste man versuchen die Beschlüsse in Brüssel zu ändern, was eher utopisch ist.

Infokasten:

Um Medizintechnik-Hersteller bei der Umsetzung der Anforderungen an klinische Leistungsnachweise/Prüfungen, wie sie die MDR fordert, zu unterstützen, hat das MIK einen Workshop zum Thema „Better togehter – Industrie und Kliniken“ angeboten. Ziel des Workshops war es, gemeinsam mit Unternehmens- und Klinikvertreter/-innen, dem Zentrum für Klinische Studien des Universitätsklinikums Tübingen und einer Clinical Research Organisation Bedürfnisse und Handlungsaufforderungen in Bezug auf klinische Prüfungen zu ermitteln. Dabei wurden die Ausweitung des bereits von der BIOPRO Baden-Württemberg etablierten KlinischenStudien-Lotsen auf Studienzentren außerhalb von Baden-Württemberg, die Stärkung des Austausches zwischen Kliniken und Herstellern sowie die Erarbeitung von Blaupausen und Musterverträgen zur Beschleunigung von Vertragsabschlüssen für klinische Prüfungen als Handlungsempfehlungen identifiziert. Aktuell bereiten wir einen weiteren Workshop mit dem Titel „Klinische Prüfungen clever geplant und durchgeführt: Wie die Digitalisierung bei klinischen Studien hilft?“ vor.

Genau an den von Ihnen genannten Punkten setzt das MIK an. Ziel ist es dabei, Unternehmen bei der Umsetzung der MDR und IVDR durch Beratungs- und Entwicklungsdienstleistungen zu unterstützen. Der Fokus liegt hierbei insbesondere auf neuen innovativen Produkten. Wie lassen sich Ihrer Meinung nach die Starrheit der MDR mit der Agilität von Innovationen verbinden? Also kurz gesagt: MDR und Innovation – geht das zusammen?

Haimerl: Das MIK leistet bereits sehr viel in der Unterstützung der täglichen Arbeit. Das betrifft zunächst die akuten Probleme bei der Umsetzung der MDR. Im Kern geht es aber natürlich auch darum, Freiräume für Innovationen zu schaffen. Man kann dabei feststellen, dass eine gute regulatorische Kompetenz immer mehr zu einem Wettbewerbsvorteil für die Unternehmen wird. Dazu gehört, die regulatorischen Prozesse so zu gestalten, dass sie agiles und innovatives Arbeiten erlauben. In der MDR selbst sind durchaus auch dynamische Ansätze verankert, z.B. in dem Punkt, gezielt Informationen aus der Post-Market-Surveillance in die Produkte einfließen zu lassen und das Unternehmen zu einem lernenden System zu machen. In Zukunft wird die Akquise und die gezielte Nutzung von Daten mehr und mehr ein Erfolgsfaktor bei Medizinprodukten werden. Dazu gehört, dass von Anfang an mitgedacht wird, wie das Produkt bewertet werden soll und wie sich dies mit der Datenstrategie verbindet. Das implementiert einen zielgerichteten agilen Prozess, bei dem die Validierung von Anfang an im Mittelpunkt steht und die Entwicklung in gewissem Maß steuert.

Eisenlohr: Meiner Ansicht nach lassen sich die MDR und Innovationen nicht miteinander verbinden, weil der Prozess unter der MDR nicht klar genug geregelt und damit zeitlich sowie finanziell nicht kalkulierbar ist. Wir als Medizintechnik-Hersteller würden eine Zulassung dann eher unter der FDA versuchen.

Sehen Sie an manchen Stellen einen Vorteil für Innovationen unter der MDR? Wie können trotz der neuen Regularien innovative Produkte auf den Markt gebracht werden?

Haimerl: Die MDR hat zunächst viele Herausforderungen, die von den Unternehmen gestemmt werden müssen, um ihre Produkte weiter vermarkten zu dürfen. Der Druck, der durch die MDR entstanden ist, kann aus meiner Sicht aber auch positive Seiteneffekte haben. Einerseits gibt es die Möglichkeit Kooperationen zwischen den Unternehmen, die Entwicklungen vorantreiben und unseren Standort stärken können, zu verstärken. Verbände, Landesagenturen, Zentren und Netzwerke wie die BIOPRO Baden-Württemberg GmbH, MedicalMountains GmbH und das MIK spielen hier als neutraler Begleiter und Enabler für neue Ansätze eine ganz wesentliche Rolle. Auch Hochschulen würde ich hier nennen, die eine wichtige Funktion bei der Ausbildung und auch bei der Entwicklung neuer Ideen spielen.

Andererseits zwingt die MDR zu einem Umdenken, das ein konsequent qualitätsgetriebenes System erfordert, welches auf effiziente Weise die Unternehmensprozesse unterstützen kann. Hier liegen wir noch ein ganzes Stück hinter anderen Branchen wie der Automobilindustrie. Im Kern geht es darum, erforderliche Nachweise nicht nur zu verwalten, sondern sie gezielt zu nutzen, um Abläufe effizienter und zuverlässiger zu machen. Ein großer Teil der heutigen Innovationen liegt im Bereich Prozesse und Businessmodelle und gar nicht mehr so stark im Bereich der Technologie. Datenkompetenz und regulatorisches Wissen werden auch hier Kernelemente sein. Ich denke, dass es hier noch viel Potenzial gibt, das auch die MDR nicht verhindert. Meiner Meinung nach müssen wir aber das regulatorische System selbst auch immer wieder hinterfragen und weiterentwickeln. Wir sollten nicht bei der MDR stehen bleiben, auch wenn die politischen Rahmenbedingungen diesbezüglich nicht günstig sind. Auch ein regulatorisches System muss dynamisch genug sein, um lernen zu können.

Eisenlohr: Da aus meiner Sicht Innovationen und MDR nicht zusammen gehen, werden innovative Produkte in naher Zukunft kaum auf den Markt gebracht werden können, sofern es keine Anpassung in den regulatorischen Vorgaben gibt.

Was raten Sie Unternehmen im Hinblick auf Innovationen unter der MDR?

Haimerl: Wichtig ist aus meiner Sicht die Bereitschaft, die Dinge neu zu denken. Wir sollten trotz oder gerade aufgrund der hohen Hürden der MDR nicht im Verwalten stecken bleiben. Wir sollten wieder ins Gestalten kommen – sowohl was die Umsetzung der Prozesse als auch die Entwicklung neuer Produkte betrifft. Wichtig wird es sein, im regulatorischen Bereich ausreichend Kompetenzen zu entwickeln und bereitzustellen. Wie bereits gesagt, regulatorische Kompetenz wird in Zukunft ein entscheidender Wettbewerbsfaktor in der Medizintechnik sein und sie wird Freiräume und Gestaltungsmöglichkeiten für neue Entwicklungen und Innovationen schaffen.

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