Die Verordnung schafft einen EU-weiten Rahmen für gemeinsame klinische Bewertungen von Gesundheitstechnologien, um Doppelarbeit zu vermeiden, den Binnenmarkt für Arzneimittel, Medizinprodukte und In-vitro-Diagnostika zu stärken und gleichzeitig ein hohes Maß an Gesundheitsschutz zu gewährleisten. Hintergrund ist, dass parallele, voneinander abweichende nationale HTA-Verfahren zu mehrfachen und divergierenden Anforderungen, erhöhtem Verwaltungsaufwand, höheren Kosten und Verzögerungen beim Marktzugang geführt haben, wovon insbesondere kleinere Unternehmen betroffen sind. HTA wird als evidenzbasierter, multidisziplinärer Prozess definiert, der die relative Wirksamkeit und den Mehrwert einer Gesundheitstechnologie gegenüber Alternativen bewertet und sowohl klinische als auch nichtklinische Bereiche umfasst. Die Verordnung legt unionsweite Verfahren und Methoden für gemeinsame klinische Bewertungen fest, ohne die Zuständigkeit der Mitgliedstaaten für Bewertungen des klinischen Zusatznutzens sowie für Preis- und Erstattungsentscheidungen zu beeinträchtigen. Die Mitgliedstaaten können ergänzende klinische und nichtklinische Analysen für ihren nationalen Kontext durchführen. Der Anwendungsbereich wird schrittweise eingeführt, beginnend mit einer geringen Anzahl von Arzneimitteln und späterer Ausweitung, einschließlich bestimmter Hochrisiko-Medizinprodukte und In-vitro-Diagnostika der Klasse D. Aktualisierungen von Bewertungen sind vorgesehen, wenn neue Daten vorliegen. Zur Steuerung wird eine Koordinierungsgruppe der Mitgliedstaaten eingerichtet, während die Kommission den Rahmen, Durchführungsrechtsakte und eine IT-Plattform bereitstellt, jedoch nicht über Inhalte abstimmt.
Die Verordnung schafft einen gemeinsamen Rahmen mit einheitlichen Regeln und Methoden für eine gemeinsame klinische Bewertung, dem sogenannten Joint Clinical Assessment (JCA). Hersteller reichen alle dafür notwendigen Informationen nur einmal auf EU-Ebene ein. Mitgliedstaaten dürfen dieselben Daten nicht erneut anfordern. Sie können jedoch zu den auf EU-Ebene eingereichten Informationen Klarstellungen verlangen. So werden Doppelarbeit vermieden und Verfahren gestrafft.
Timeline
Der Start erfolgt stufenweise: Zunächst werden wenige Arzneimittel gemeinsam bewertet; drei Jahre nach Geltungsbeginn wird die Zahl der JCAs schrittweise erhöht. Für Arzneimittel soll der Zeitplan möglichst mit dem zentralen EU‑Zulassungsverfahren synchronisiert werden, damit Ergebnisse zeitnah zum Markteintritt vorliegen. Für Medizinprodukte und In‑vitro‑Diagnostika werden bestimmte Hochrisiko‑Klassen einbezogen; da klinische Nachweise hier häufig erst nach der Markteinführung entstehen, können Bewertungen auch später stattfinden, ohne die CE‑Kennzeichnung oder den Marktzugang zu verzögern. Das JCA bleibt dabei klar von nationalen regulatorischen Verfahren getrennt.
Koordinierungsgruppe
Die Koordinierungsgruppe der Mitgliedstaaten organisiert und überwacht sowohl das JCA als auch die gemeinsame wissenschaftliche Beratung (Joint Scientific Consultation, JSC). Ihre Mitglieder werden von den Ländern benannt und streben Entscheidungen im Konsens an. Kommt kein Konsens zustande, gilt in fachlichen und wissenschaftlichen Fragen die einfache Mehrheit – strategische Dokumente werden mit qualifizierter Mehrheit beschlossen. Die Europäische Kommission nimmt an Abstimmungen über Inhalte der JCAs nicht teil und kommentiert deren Inhalte nicht. Sie stellt jedoch den organisatorischen Rahmen bereit, erlässt Durchführungsregeln, unterstützt finanziell, betreibt eine IT‑Plattform und führt das Sekretariat. Zur Qualitätssicherung entwickelt die Koordinierungsgruppe methodische Leitfäden nach Standards der evidenzbasierten Medizin und legt Verfahrensschritte und Fristen fest; für Arzneimittel, Medizinprodukte und IVD können unterschiedliche Vorgaben gemacht werden. Bevorzugt werden methodisch gut gestaltete, direkt vergleichende, randomisierte, verblindete Studien, wobei Beobachtungsstudien und Real‑World‑Daten nicht ausgeschlossen sind. Für Orphan-Arzneimittel, Arzneimittel für neuartige Therapien (Advanced Therapy Medicinal Products, ATMPs) und Impfstoffe sind methodische Anpassungen möglich. Bewertungen können aktualisiert werden, wenn neue Daten die Aussagekraft erhöhen.
JCA-Bericht
Ein JCA‑Bericht ist ein wissenschaftlicher Vergleich der verfügbaren klinischen Daten zu Wirksamkeit und Sicherheit gegenüber festgelegten Alternativen. Er beschreibt das Krankheitsbild, die Technologie, die Vergleichsoptionen und die klinischen Ergebnisse gemäß einem vorher vereinbarten Bewertungsumfang. Der Bericht enthält bewusst keine Wertungen, keine Rangfolge von Endpunkten, keine Gesamt‑ oder Zusatznutzenurteile, keine Festlegung der Zielgruppe und keine Aussagen zum Stellenwert in der Versorgung. Stattdessen werden Zahlen dokumentiert, sowie Unsicherheiten sowie Grenzen der Evidenz erläutert. Für den nationalen Prozess dürfen Mitgliedstaaten ergänzende klinische Analysen vornehmen, zum Beispiel zu anderen Patientengruppen, Komparatoren oder Endpunkten, und jederzeit nichtklinische Bewertungen wie Kosten, Organisation, Ethik oder Recht einbeziehen. JCA‑Berichte sind wissenschaftlich nicht bindend, sollen „in angemessener Weise“ berücksichtigt werden und dürfen nationale Zeitpläne nicht verzögern; zudem entfalten sie keine direkten Wirkungen gegenüber Herstellern oder Dritten.
Mit der Einmal‑Einreichung auf EU‑Ebene ist festgelegt, dass auf nationaler Ebene keine Informationen verlangt werden dürfen, die bereits für die EU‑Bewertung eingereicht wurden. Umgekehrt sollen Hersteller national nichts erneut einreichen, was sie schon auf EU‑Ebene vorgelegt haben. Eine Ausnahme besteht für Programme des frühen Zugangs zu Arzneimitteln in den Mitgliedstaaten.
Prozess
Für die Praxis gibt es zwei Bausteine:
- Gemeinsame wissenschaftliche Beratung (JSC): Entwickler können früh Hinweise zu Studiendesign, Komparatoren und Endpunkten erhalten. Dies ist nicht rechtlich bindend und kann parallel zu Beratungen mit der EMA oder Expertengremien laufen, bei klar getrennten Zuständigkeiten.
- Expertise und Stakeholder: Externe Fachleute (klinische Expertinnen und Experten, Patientinnen und Patienten, Methodikerinnen und Methodiker) werden nach Qualifikation einbezogen und unterliegen Regeln zu Unabhängigkeit und Interessenkonflikten; ein Stakeholder‑Netzwerk bindet Patientengruppen, Fachgesellschaften, Berufsverbände, Industrie sowie Verbraucherinnen und Verbraucher ein.
Zur vorausschauenden Planung dient eine Sondierungsphase, die vielversprechende Technologien früh erkennt und die Arbeitsplanung unterstützt. Die EU fördert außerdem eine freiwillige Zusammenarbeit, etwa zu Impfprogrammen, zum Kapazitätsaufbau und zu digitalen Synergien. Technisch wird eine sichere IT‑Plattform mit Datenbanken aufgebaut, möglichst mit Anbindung an bestehende EUnetHTA‑Funktionen und künftige Datenräume. Die Finanzierung der gemeinsamen Arbeit soll stabil und dauerhaft gestaltet werden; Mitgliedstaaten können nationale Expertinnen und Experten abordnen. Die Europäische Kommission berichtet dem Parlament und dem Rat spätestens drei Jahre nach Geltungsbeginn über die Anwendung und den Mehrwert der Verordnung, über mögliche Gebührenmodelle, und über die Wirkung der Einmal‑Einreichung. Die Mitgliedstaaten berichten spätestens zwei Jahre nach Beginn der Arzneimittel‑JCAs über ihre Erfahrungen und den Mehrwert für ihre nationalen Prozesse.
Kompakte Übersicht – Ablauf und Umsetzung des HTA‑Prozesses:
Früherkennung und Planung: Sondierungsphase identifiziert Technologien und unterstützt die Arbeitsplanung.
Gemeinsame wissenschaftliche Beratung (JSC): Frühe, nicht bindende Hinweise zu Studiendesign, Komparatoren und Endpunkten; parallele EMA‑Beratung möglich.
Einmalige EU‑Einreichung: Hersteller reichen klinische Daten zentral ein; Mitgliedstaaten fordern diese nicht erneut an, können aber Klarstellungen verlangen.
Joint Clinical Assessment (JCA): Vergleichende Bewertung von Wirksamkeit und Sicherheit gemäß festgelegtem Scope; Bericht ohne Wertungen, mit Darstellung von Ergebnissen, Unsicherheiten und Evidenzgrenzen.
Governance und Qualität: Koordinierungsgruppe organisiert JCA/JSC, legt Methodik, Verfahrensschritte und Fristen fest; Kommission stellt Regeln, IT‑Plattform, Finanzierung und Sekretariat bereit.
Nationale Nutzung: JCA wird „in angemessener Weise“ berücksichtigt; ergänzende klinische Analysen und nichtklinische Bewertungen sind möglich; keine Verzögerung nationaler Zeitpläne; keine doppelten Datenanforderungen; Ausnahme Frühzugangsprogramme.
Zeitliche Staffelung: Schrittweiser Ausbau der JCAs; Synchronisierung mit EU‑Zulassung für Arzneimittel; spätere Bewertungen für Hochrisiko‑Medizinprodukte/IVD möglich.
Aktualisierung und Evaluation: Aktualisierung der Bewertungen bei neuen Daten; Kommissionsbericht nach drei Jahren; Mitgliedstaatenbericht zwei Jahre nach Start der Arzneimittel‑JCAs.