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Nachhaltigkeit in Medizinprodukten und die Herausforderung beim Materialwechsel

2. Um was geht es? Was ist das Problem?

2.1 Zusammenfassung dieses Kapitels

Dieses Kapitel stellt die wichtigsten Treiber für Design Changes im Kontext der Nachhaltigkeit vor sowie die folgenden möglichen Komplikationen für die Hersteller:

  • mögliche Zielkonflikte zwischen Patientensicherheit und Nachhaltigkeit,
  • hohe zeitliche Aufwände;
  • mögliche Umsatzverluste.

2.2 Ausgangslage

2.2.1 Die Notwendigkeit für Nachhaltigkeit steigt

Der Europäische Rat hat den „Europäischen Green Deal (EGD)“ am 11. Dezember 2019 präsentiert. Er verfolgt das Ziel, bis 2050 in der EU die Netto-Emission von Treibhausgasen auf null zu reduzieren (Klimaneutralität)1).

Die Dimensionen der Nachhaltigkeit umfassen neben der ökologischen Nachhaltigkeit (z.B. Ressourcenschonung, Abfallreduktion und Recycling) auch eine soziale (z.B. Arbeitsschutz) und eine ökonomische Nachhaltigkeit (z.B. verantwortungsvolle Unternehmensführung sowie nachhaltige Lieferketten).

2.2.2 Drei Grundprinzipien zur Umsetzung von Nachhaltigkeit

Der BVMed - Bundesverband Medizintechnologie e.V. hat als Handreichung einen Muster-Kodex Nachhaltigkeit für Medizintechnik-Unternehmen veröffentlicht. Dieser soll das Lieferketten-Sorgfaltspflichtengesetz (LkSG) und den europäischen „Green Deal“ ergänzen. Der BVMed formuliert darin drei Grundprinzipien für die Umsetzung2):

  1. Egalitätsprinzip
    Jede Person hat ein unterschiedsloses Recht auf Zugang zu Medizinprodukten bzw. Gesundheitsleistungen.
  2. Vorrangprinzip
    Bei der Umsetzung der Maßnahmen gilt die Reihenfolge Reduce, Reuse, Recycle. Das bedeutet, dass mit höchster Priorität die Verwendung von Ressourcen minimiert werden soll, falls das nicht ausreichend möglich ist, sollen diese Ressourcen wiederverwendet werden, und falls das nicht ausreichend möglich ist, sollen die Ressourcen recycelt werden.
  3. Vorsorgeprinzip
    Auch sollen bei der Umsetzung präventive Maßnahmen etabliert werden, um eine mögliche Umweltbelastung von vorneherein zu vermeiden.

2.2.3 Medizinproduktehersteller sind von der Umsetzung betroffen

Das Gesundheitssystem und die Medizinproduktehersteller müssen auch ihren Beitrag zur Nachhaltigkeit leisten und dabei die genannten Grundprinzipien beachten. Diese Umsetzung betrifft bezogen auf die ökologische Nachhaltigkeit beispielsweise

  • die Auswahl der Materialen, aus denen die Medizinprodukte gefertigt werden,
  • die Art der Produktion dieser Produkte,
  • die Verpackung (z. B. Materialien) dieser Produkte und
  • die Wiederverwendbarkeit bzw. Entsorgung.

Die Hersteller haben viele Möglichkeiten, um mehr Nachhaltigkeit zu erreichen wie:

  • Materialwechsel: Es können andere Materialien z.B. biobasierte Rohstoffe oder recycelte Materialien eingesetzten werden.
  • Produktionsänderungen: Durch die Wahl der Materialien und durch andere Produktionsverfahren können CO2-Emissionen und Umweltverschmutzung durch die Herstellung verringert werden. Beispielsweise lässt sich der Produktionsabfall, der Einsatz von Hilfsstoffen oder Energie reduzieren.
  • Änderung der Verpackung: Eine weitere Option besteht darin, die Verpackung zu ändern wie z.B. die Anzahl der Umverpackungen und/oder die Materialien.
  • Wiederverwendbarkeit erhöhen: Es können entweder Produkte hergestellt werden, die wiederverwendet werden können oder wenn möglich Nebenprodukte und Hilfsmittel aus der Produktion oder Materialien zurück in den Kreislauf geführt werden.

2.3 Komplikation

2.3.1 Es gibt mögliche Zielkonflikte zwischen Sicherheit und Nachhaltigkeit

Gesetze verpflichten die Hersteller zu nachhaltigen, sicheren und wirksamen Medizinprodukten. Diese Ziele stehen regelmäßig im Konflikt.

Glühbirne
© Johner Institut GmbH

Beispiel

Medizinprodukte zur Einmalverwendung werden von den anwendenden Personen bzw. Krankenhäusern nicht erneut sterilisiert. Daher sind Patientinnen und Patienten keinem Risiko durch eine fehlerhafte Sterilisierung ausgesetzt. Allerdings sind Einwegprodukte nicht nachhaltig. Es entsteht eine beträchtliche Menge an Müll.

2.3.2 Hersteller müssen höhere Aufwände betreiben

Jede Änderung an einem Medizinprodukt führt dazu, dass die Hersteller die Produkte erneut verifizieren und validieren müssen. Sie sind auch verpflichtet, die Risiken erneut zu analysieren und zu bewerten und ggf. weitere Maßnahmen zu ergreifen, um die Risiken zu minimieren.

Dabei entstehen Aufwände und Kosten für:

  • Verifizierung und Validierung (V&V) der Produkte mit z.B. Kosten für Prüflabore;
  • erneute Validierung der (geänderten) Prozesse;
  • Risikomanagement;
  • Steuerung der Lieferant:innen (z.B. neue Qualitätssicherungsvereinbarungen [QSV]);
  • Überarbeitung der technischen Dokumentation (TD) und/oder
  • regulatorische Aufwände wie z.B. eine Bewertung, ob die Änderungen wesentlich sind, erneute Konformitätsbewertung und die Einbeziehung Benannter Stellen.

2.3.3 Hersteller drohen Umsatzverluste

Selbst scheinbar kleine Änderung dauern lange.

Glühbirne
© Johner Institut GmbH

Beispiel

Die Umstellung der Verpackungsmaterialien von Kunststoffpolstern auf einen gefalteten Karton dauerte z.B. bei einem Unternehmen, das künstlichen Gelenken produziert, fast zwei Jahre.

Wenn Hersteller in dieser Zeit die Produkte nicht in den Markt bringen dürfen, weil beispielsweise die Änderungen den „Bestandsschutz“ gefährden oder die Konformität nicht zeitnah nachgewiesen werden kann, gehen in diesem Zeitraum Umsätze verloren.

Noch stärker betroffen sind Hersteller, denen der Einsatz bestimmter Materialien oder der Herstellungsprozess untersagt wird und dafür noch kein adäquater Ersatz gefunden werden konnte. Pauschale Verbote können solche Hersteller in ihrer Existenz bedrohen.

2.4 Fragestellungen

Generell müssen bei einem Design Change auf nachfolgende Fragen Antworten gefunden werden:

  • Was zählt als Design bzw. Material-Change?
  • Welche regulatorischen Anforderungen müssen bei solchen Änderungen beachtet werden?
  • Wann sind diese Änderungen als „wesentlich“ einzustufen?
  • Welche Prozesse sind von diesen Änderungen betroffen und müssen entsprechend betrachtet werden?
  • Wie sollte bei diesen Changes vorgegangen werden, um sowohl die regulatorischen Anforderungen zu erfüllen als auch die Aufwände zu begrenzen und Umsatzverluste zu vermeiden?

Um den Forderungen nach Nachhaltigkeit in der Medizintechnik-Branche gerecht zu werden, müssen Hersteller zusätzlich noch folgenden Punkt betrachten:

  • Welche besonderen Anforderungen und Risiken gibt es beim Einsatz von recycelten oder biobasierten Materialien?

Auf diese Fragen wird in den folgenden Kapiteln näher eingegangen.

Literatur:

1) Europäischer Rat: Ein europäischer Grüner Deal. https://www.consilium.europa.eu/de/policies/green-deal/

2) BVMed - Bundesverband Medizintechnologie e.V.: Muster-Kodex Nachhaltigkeit des BVMed für MedTech-Unternehmen (2023). https://www.bvmed.de/de/bvmed/presse/pressemeldungen/bvmed-veroeffentlicht-muster-kodex-nachhaltigkeit-fuer-medtech-unternehmen

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Seiten-Adresse: https://regulatorik-gesundheitswirtschaft.bio-pro.de/infothek/fachbeitraege/nachhaltigkeit-medizinprodukten-und-die-herausforderung-beim-materialwechsel/um-was-geht-es-was-ist-das-problem