Nachhaltigkeit in Medizinprodukten und die Herausforderungen beim Materialwechsel
5. Wann zählen Design-/Material-Changes als wesentlich?
Bitte beachten!
Hersteller müssen „significant changes“ und „substantial changes“ unterscheiden, auch wenn beide „changes“ im Deutschen gleichermaßen mit „wesentlich“ übersetzt werden.
- Der Begriff „significant change“ wird nur im Rahmen der Übergangsfristen nach Artikel 120 genutzt. Eine Bedingung ist, dass keine „significant changes“ erfolgen.
- Was ein „substantial change“ ist, definiert die MDR nicht. Es gibt jedoch ein (altes) NB-MED Dokument9) zu diesem Thema. Ein „substantial change“ zieht u.a. Informationspflichten an die Benannte Stelle nach sich.
Im Folgenden geht dieses Kapitel auf beide Typen von Änderungen ein.
5.1 Zusammenfassung dieses Kapitels
Jeglicher geplante Design Change muss gemäß ISO 13485, Kapitel 7.3 innerhalb des QM-Systems bewertet werden. Ob ein Design Change jedoch wesentlich ist oder nicht, wirkt sich darauf aus,
- ob und wie Benannte Stellen eingebunden werden müssen und
- ob die Hersteller die Übergangsfristen der MDR bzw. IVDR nutzen können.
Mehrere regulatorische Dokumente helfen bei der Beurteilung, ob ein Design Change wesentlich ist.
5.2 Wesentliche Änderungen und Benannte Stellen
Das folgende Teilkapitel beschreibt, wann zusätzlich die Benannte Stelle mit einbezogen werden muss.
5.2.1 Guidance Document des TEAM NB
Die Vereinigung der Benannten Stellen (Team NB) hat mit der NB-MED/2.5.2/Rec2 eine Empfehlung publiziert, die etwas mehr Klarheit zur Kommunikation von Design Changes an die jeweilige Benannte Stelle schaffen soll.
Darin beschreiben die Autorinnen und Autoren, wann ein Design Change als wesentlich („substantial/significant“) zu bewerten und damit meldepflichtig gegenüber der Benannten Stelle ist. Das wäre jede Änderung am Produkt, die die Konformität mit den grundlegenden Anforderungen oder den spezifizierten Anwendungsbereich bzw. Kontraindikationen beeinflussen könnte.
Konkret benennt das Dokument Änderungen
- der Zweckbestimmung, Indikation, Kontraindikation;
- von Leistungsmerkmalen;
- eines Zulieferers;
- aufgrund von Risiken, die noch nicht betrachtet wurden;
- von Warnungen;
- der vorgesehenen Nutzergruppen;
- der vorgesehenen Nutzung;
- von Charakteristiken, die durch die klinische Bewertung noch nicht berücksichtigt sind;
- als Folge von Überlegungen, die aus der Marktbeobachtung stammen inklusive aus Zwischenfällen, Rückrufen oder Beschwerden;
- getrieben durch State-of-the-Art-Entwicklung (z. B. neuste Technologien);
- die die Produktion beeinflussen;
- die die Sicherheit und Leistungsfähigkeit des Produkts betreffen.
Das Ziel der Meldepflicht dabei ist es, der Benannten Stelle die Möglichkeit zu geben, die Konformität des Produkts nach einer Änderung des Designs zu prüfen. Benannte Stellen können aufgrund einer gemeldeten Produktänderung entscheiden, ob sie eine erneute Ad-hoc-Prüfung der Konformität durchführen oder die Änderung im nächsten planmäßigen Audit mit betrachten.
Das Dokument des Teams NB stellt an dieser Stelle nur eine allgemeingültige Interpretation von substanziellen/wesentlichen Änderungen dar.
Bitte beachten!
Da das Dokument noch unter der MDD/IVDD erstellt wurde, stellt es unter der MDR/IVDR lediglich eine Hilfestellung dar. Rechtlich bindend ist ohnehin nur der Vertrag zwischen Medizinproduktehersteller und Benannter Stelle, in dem die Meldekriterien und -bedingungen explizit und individuell definiert sind.
5.2.2 Scope des Zertifikats
Entscheidend ist zudem der Anwendungsbereich des Zertifikats: Falls Hersteller ihr Produkt, das Sie über Anhang II der MDD bzw. über Anhang IX der MDR in den Verkehr bringen, so ändern, dass es nicht mehr in den Scope fällt, müssen sie die Benannte Stelle einbeziehen.
Die Zertifikate erlauben Hersteller:innen, Produkte innerhalb des Zertifikats zu entwickeln und in den Verkehr zu bringen, ohne die Benannte Stelle um Erlaubnis zu fragen. Allerdings verlangen die Benannten Stellen häufig, über die nicht wesentlichen Änderungen informiert zu werden.
5.3 Wesentliche Änderungen & Übergangsfristen
Von den bisher beschriebenen Meldepflichten für Design Changes gegenüber den Benannten Stellen muss ein weiteres Konzept komplett losgelöst betrachtet werden.
Wesentliche Änderungen im Zusammenhang mit der Übergangsfrist von den Europäischen Richtlinien (MDD/IVDD) zu den Verordnungen (MDR/IVDR) unterliegen anderen regulatorischen Implikationen. Hier geht es um die Fragestellung, ob die bisherige Konformitätserklärung bei einer Änderung am Produkt gültig bleibt.
5.3.1 MDR/IVDR
Im Kontext der Übergangsregelungen spielen Design Changes in den Verordnungen an folgenden Stellen eine Rolle:
Abweichend von Artikel 5 der vorliegenden Verordnung darf ein Produkt, für das eine Bescheinigung gemäß der Richtlinie 90/385/EWG oder der Richtlinie 93/42/EWG erteilt wurde, die gemäß Absatz 2 des vorliegenden Artikels gültig ist, nur in Verkehr gebracht oder in Betrieb genommen werden, sofern es ab dem Tag des Geltungsbeginns der vorliegenden Verordnung weiterhin einer dieser Richtlinien entspricht und sofern keine wesentlichen Änderungen der Auslegung und der Zweckbestimmung vorliegen.
MDR, Artikel 120(3)
Analog formuliert es die IVDR.
5.3.2 MDCG 2020-3 (Medizinprodukte)
Die Medical Device Coordination Group MDCG hat genau dazu eine Leitlinie veröffentlicht, in der weiter ausgeführt wird, wann Änderungen als wesentlich betrachtet werden müssen.
5.3.2.1 Beispiele für wesentliche Änderungen
Im Kontext der Materialien betrachtet die MDCG
- einen Wechsel von einem Material mit einem geringen toxikologischen oder biologischen Risiko zu einem Material mit einem höheren Risiko,
- ein Hinzufügen oder Verändern eines Materials menschlichen/tierischen Ursprungs,
- Änderungen an Materialien, die Arzneimittel enthalten oder diese beeinflussen und
- Änderungen von Materialien außerhalb oder innerhalb der Spezifikation mit Einfluss auf Leistung/Sicherheit
als wesentlich.
Bitte beachten!
Auch Änderungen im Prozess zur Gewinnung des Materials tierischen Ursprungs oder die verwendete Konzentration und Reinheit können einen Einfluss auf die Sicherheit haben und würden damit als wesentlich zählen.
5.3.2.2 Beispiele für nicht-wesentliche Änderungen
Beispiele für nicht-wesentliche Änderungen sind:
- Austausch eines Lieferanten, der die Materialien innerhalb der gleichen Spezifikation liefert;
- Austausch des Materials innerhalb der gleichen Spezifikation und ohne Einfluss auf Sicherheit und Leistung.
Ebenfalls nicht wesentlich in diesem Kontext sind Änderungen wie der Umzug der Produktion oder eine neue Produktionsstätte.
5.3.3 MDCG 2022-6 (IVDs)
Nach der Leitlinie MDCG 2020-3 für Medizinprodukte unter der MDR hat die MDCG im Mai 2022 auch eine Leitlinie für In-vitro-Diagnostika veröffentlicht. Diese Leitlinie MDCG 2020-610) trägt den Titel “Guidance on significant changes regarding the transitional provision under Article 110(3) of the IVDR” . Sie konkretisiert welche Änderungen eines Produkts, das den Übergangsfristen der IVDR unterliegt, als wesentlich einzuordnen sind. Sie baut dabei auf den Festlegungen der Leitlinie MDCG 2020-3 auf:
- Auch für IVDs zählen administrative oder organisatorische Änderungen als nicht-wesentlich und
- Erweiterungen der Zweckbestimmung oder Änderungen in der Leistungsspezifikation, werden auch bei IVDs als wesentlich eingestuft.
Darüber hinaus grenzt die MDCG in der Leitlinie MDCG 2022-6 jedoch konkreter und anhand von Beispielen wesentliche von nicht-wesentlichen Änderungen nach Art der Änderung voneinander ab:
- Materialänderungen sowie Modifikationen des Sterilisationsverfahren stuft die Leitlinie als wesentlich ein.
- Hingegen betrachtet sie Änderungen als nicht-wesentlich, die Materialien betreffen, die nicht maßgeblich für das Funktionsprinzip sind, wie das Ersetzen eines Konservierungsmittels oder den Austausch von Chemikalien zur Konformität mit der REACH Verordnung (falls keine Beeinträchtigung der Leistung besteht).
Schlussfolgerung
MDCG 2022-6 betrachtet nicht jede Materialänderung als wesentlich. Jedoch müssen diese Änderungen im Rahmen der bisherigen Spezifikationen erfolgen.
Ob eine Änderung wesentlich ist, hängt zudem davon ab, ob sie einen Einfluss auf das Funktionsprinzip hat oder haben kann.
Beispiele
Wesentliche Änderung: Änderung der Sterilisationsverpackung z.B. zu nachhaltigem Tyvek® oder zu wiederverwendbaren Sterilisierbehältern, da diese sich auf die Gewährleistung der Sterilität auswirken könnte.
Nicht wesentliche Änderung: Änderung der Umverpackung eines unsterilen Medizinprodukts, da diese keinen Einfluss auf das Funktionsprinzip des Produkts hat (Einfluss Verpackung/Transport-Validierung beachten).
Wesentliche Änderung: Materialänderung eines Insufflationsschlauchs mit anderen Spezifikationen z.B. von Silikon auf PVC.
Nicht wesentliche Änderung: Änderung des PVC-Materials eines Infusionsschlauchs von DEHP-haltig auf nicht-DEHP-haltig innerhalb der Spezifikation aufgrund der REACH-Regulierung.
Wesentliche Änderung: Änderung des Materials einer Corona-Test-Kit-Kassette von Plastik auf Karton. Die Leistungsfähigkeit des Testsystems könnte beeinflusst sein z.B. bei Kontakt der Probe mit dem Karton (Probenmenge bzw. Zusammensetzung).
Nicht wesentliche Änderung: Änderung der äußeren Umverpackung des Test-Kits von Folie auf Karton.